Das Gefühl kennt inzwischen jede*r: Die Nachrichtenlage ist explosiv, der Ton aggressiv, die Worte schriller. Von allen Seiten ist von Aufrüstung die Rede, von Sicherheitsstrategien, von neuen atomaren Drohkulissen. Und die Angst vor einem Dritten Weltkrieg? Die ist längst salonfähig geworden.
Inmitten dieser brodelnden Weltlage gibt es Stimmen, die nicht mit dem Säbel rasseln, sondern mit klarem Blick analysieren. Eine davon gehört dem Politikwissenschaftler Heinz Gärtner. Sein Appell: Nicht mitmarschieren – nachdenken. „Es hat schon einmal eine Welt gegeben, in der niemand einen Krieg wollte – und am Ende alle mittendrin waren“, warnt er.
Gärtner spielt auf das berüchtigte „Hineinschlafwandeln“ in den Ersten Weltkrieg an. Was damals durch nationalistische Kurzsichtigkeit passierte, droht heute durch militärische Rhetorik. „Fast nur noch Militärexpert*innen kommen zu Wort. Friedensforschung? Fehlanzeige.“ Und dann dieser Satz: „Über Nuklearwaffen wird inzwischen geredet, als wären es handelsübliche Raketen.“
Die Welt sei keineswegs multipolar, sagt Gärtner. Vielmehr sei sie schief. Mächte mit Atomwaffen bestimmen den Ton – allen voran die USA, China und mit Abstrichen Russland. Letzteres zwar wirtschaftlich geschwächt, aber noch immer gefährlich. Und Europa? Europa rüstet auf. Schweigt. Und duckt sich weg.
Was Gärtner fehlt, ist politischer Mut. Und Fantasie. Denn statt Diplomatie wiederzubeleben, wie in den 1970er-Jahren bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, dominiert heute martialisches Denken. „Damals sprachen alle von gemeinsamer Sicherheit. Heute spricht man von Gegner*innen, Bedrohungen, Herausforderungen. Das hat System.“
Gärtner fordert eine Rückkehr zum Prinzip der „unteilbaren Sicherheit“. Heißt: Wer sich selbst schützt, muss auch fragen, wie sich andere damit fühlen. „Wenn ich eine Rakete stationiere, muss ich bedenken, ob das jemand anderen provoziert.“
Gerade in Bezug auf die Ukraine sieht er verpasste Chancen. Statt auf diplomatische Ansätze zu setzen, bereite sich Europa auf eine neue Teilung des Kontinents vor. „Ein neuer Eiserner Vorhang, der sich von der Arktis bis ans Schwarze Meer zieht – das ist keine Dystopie, das ist Planungsgrundlage“, warnt er.
Die Parallelen zur Kubakrise 1962 seien offensichtlich. Auch damals wurde die andere Seite nicht mitgedacht. Die Sowjetunion stellte Raketen auf, die USA drohten mit Krieg. Erst in letzter Sekunde wurde abgerüstet. „Wir haben mehrfach nur dank besonnener Militärs keinen Atomkrieg erlebt“, erinnert Gärtner.
Er kritisiert auch das europäische Schweigen angesichts der Aufrüstung Chinas und der Eskalationen rund um Taiwan. Statt eine vermittelnde Rolle einzunehmen, lasse man sich in Lager drücken. „Es gibt eine Umfrage: 60 Prozent der EU-Bürger*innen wollen im Falle eines USA-China-Konflikts neutral bleiben. Warum nicht Regierungen, die das umsetzen?“
Dabei sei Neutralität kein Rückzug, sondern eine Strategie. Ein Spielraum. Ein Signal. „Österreich 1955 war ein Erfolgsmodell“, sagt Gärtner. Und erinnert daran, dass selbst 1907 der britische König dem österreichischen Kaiser Franz Joseph vorgeschlagen hatte, sich neutral zu verhalten. „Hätte er das getan, vielleicht wäre es nie zum Ersten Weltkrieg gekommen.“
Gärtner sieht Europa in einer ähnlichen Rolle wie damals. Und macht deutlich, dass es schon einmal besser war: beim Iran-Atomabkommen 2015 etwa. „Drei europäische Staaten haben das verhandelt. In Wien. Ein Durchbruch. Und dann kam Trump – und Europa war wieder still.“
Statt einer eigenen Außenpolitik gibt es Empörung über Trump, über Putin, über Xi Jinping – aber kaum Initiative. „Trump hat Nordkorea mit dem Atomknopf gedroht, Europa hat zugeschaut. Er hat den Nahost-Friedensplan zerpflückt, Europa hat geschwiegen. Und jetzt wundert man sich über die eigene Bedeutungslosigkeit.“
Für Gärtner ist das größte Versäumnis nicht die militärische Schwäche Europas – sondern die politische. „Es braucht keine Präsidentin für Europa. Es braucht nur jemanden, der Ideen hat. Und den Willen, sie umzusetzen.“
Seine Analyse ist messerscharf, seine Forderung glasklar: Nicht mehr länger die Rolle der Zaungäste spielen, während die Welt aufrüstet. Europa hat Geschichte gemacht – es kann es wieder tun. Wenn es sich endlich traut.